Fokus

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Nach der Wende 1990 | 2020

»DIE INNERDEUTSCHEN RESSENTIMENTS SIND EINES DER GRÖSSTEN TABUS UNSERER GESELLSCHAFT,
KEINE DER BEIDEN SEITEN GIBT OFFEN ZU, WIE GROSS DIE VORURTEILE JEWEILS WIRKLICH SIND.
SIE BRECHEN DANN EBEN HERVOR.«
JANA HENSEL, ›WER WIR SIND − DIE ERFAHRUNG, OSTDEUTSCH ZU SEIN‹

Wer wir sind war für mich die fällige Nachhilfestunde, um meinen Blick auf Ostdeutschland zu justieren. Die Formulierung »fünf neue Länder« machte nach der Wende deutlich, von welcher Position ab jetzt gesprochen wurde. Die kulturelle Hegemonie des Westens über den Osten bereitet mir Unbehagen. Sie nährt auch meinen Zweifel, ob man überhaupt eine Filmreihe im Westen über den Osten machen darf. Ich fragte Kurator*innen und Filmemacher*innen vor allem aus Ostdeutschland, welche Filme für die Zeit nach der Wende wichtig sind und warum. Was wurde überhaupt finanziert im Kontext einer westdeutsch ausgerichteten Filmförderung? In diesem mehrstimmigen Versuch, ostdeutsche Erfahrungen in Filmen zu finden, eröffnet sich ein willkommener (Denk-)Raum für Brüche, Utopien, Neuanfänge und marginalisierte Perspektiven. In den Filmen stehen Menschen im Mittelpunkt, die sich subversiver Strategien bedienen, um ihre Spielräume auszuweiten. Zwar haben die meisten der Filmemacherinnen aus drei Generationen einen ostdeutschen Hintergrund, doch sind Ost und West in ihren Biografien und Filmen längst verflochten.

Oft gibt es Rückgriffe auf symbolträchtige Orte, deren Verfall für den Verlust des sozialen Gefüges steht. Susann Maria Hempel interessiert sich für Überreste, die Zurückgebliebenen, und entdeckt darin bei aller Melancholie eine tiefe Poesie. Als in blaubeeren – cerne jagody die uralte Buche, geliebt und wertgeschätzt, eines Tages verschwunden ist − ein weiteres Opfer des Braunkohletagebaus in der Lausitz − wird das mit solcher Wucht inszeniert, dass einen der Schock völlig durchdringt. Nicht selten ist der Akt des Filmemachens selbst probates Mittel zum Widerstand.
Die Filme reichen bis in die Gegenwart – sei es, weil sie die Gründe der politischen Zerwürfnisse, mit denen wir es heute zu haben, schon früh formulieren, wie Petra Tschörtners melancholischer Abgesang auf den Prenzlauer Berg, oder weil sie ihre Erzählstränge über viele Jahrzehnte spinnen, wie Ines Johnson-Spains Revision verleugneter schwarzer Identität in Becoming Black. Es sind Biografien, die ohne die Existenz der DDR nicht denkbar wären, wertvolle Gegenerinnerungen, die Möglichkeitsräume aufmachen und anders sind, weil in ihnen »der Westen« nicht das Normale ist. Die Filme können als Phänomen der Krisenbewältigung verstanden werden − viele Verletzungen sitzen tief. »Die Nichtanerkennung der eigenen Biografie in verschiedenen Generationen habe ich auch in meinem eigenen Umfeld erlebt. Diese Grundstimmung war für mich der Ausgangspunkt, den Film zu machen«, erklärt Therese Koppe.

Annekatrin Hendel argumentiert, dass gerade Filme von Frauen Mainstream-Erzählungen des vereinten Deutschlands hinterfragen. Den emanzipierten ostdeutschen Blick hat es kontinuierlich gegeben − sowohl vor als auch hinter der Kamera. Mit dieser Haltung entstehen wichtige, aber rare Bilder, für die eigentlich kein Platz ist im wiedervereinigten Deutschland, und die eine Vielfalt an inspirierenden Überraschungen bereit hält. Noch immer ringe ich mit der Frage, was »ostdeutsche Erfahrungen« überhaupt sind.
Betty Schiel

Kuratorinnen:

Becoming Black

Ines Johnson-Spain

DE
2019
Dokumentarfilm
91’

»In einem Land, in dem jede Abweichung von der Norm als existenzielle Bedrohung angesehen wurde, muss die Geburt eines schwarzen […]

DE
1990
Dokumentarfilm
75’

»… jetzt werden wir fertig gemacht vom Westen, so sieht es aus. Kinners, der eine ist dagegen, der andere ist […]

Blaubeeren – cerne jagody

Maja Nagel, Julius Günzel

DE
2013
Dokumentarfilm, Kurzfilm
15’

»Hier wird Abschied genommen und der Trauer Raum gegeben […] Wenn es eine Anklage gibt, dann wird sie nicht ausgesprochen.« […]

Das Haus

Barbara Metselaar Berthold

DE
1990
Kurzfilm
15’

Nach dem Krieg und diversen Abriss-Wellen steht am Potsdamer Platz direkt neben der Mauer nur noch ein einziges Gebäude: das […]

Der große Gammel

Susann Maria Hempel

DE
2013
experimenteller Dokumentarfilm
9’

Ein filmischer Abgesang der Filmemacherin auf das alte Theater ihrer Heimatstadt Greiz. Was sich in dem verlassenen Gebäude finden ließ […]

Der Schwarze Kasten

Tamara Trampe, Johann Feindt

DE
1992
Dokumentarfilm
94’

»Was verbarg sich hinter dem geradlinigen Hinüberstürmen in eine ›Neue Gesellschaft‹, das jede Frage verbot?« Tamara Trampe Enge Innenräume. Ganz […]

From Us To Me

Amber Film & Photography Collective (Ellin Hare, Richard Grassick)

UK
2016
Dokumentarfilm
83’

»Auf die Offenheit und emotionale Kraft der Interviews angesprochen, sagte ein*e Protagonist*in: ›Wir haben all die Jahre darauf gewartet, dass […]

Gundermann Revier

Grit Lemke

DE
2019
Dokumentarfilm
98’

»Das Revier hat uns beide ausgespuckt. Du hast es einmal umgegraben. Wir wollten was bewegen.« Grit Lemke Der Film beginnt […]

Im Stillen Laut

Therese Koppe

DE
2019
Dokumentarfilm
74’

»Was ist mit den Biografien der Künstlerinnen, die in der DDR ausgebildet wurden und dort gearbeitet haben, nach der Wende […]

Kind als Pinsel (Kooperatorka)

Else Gabriel, Ulf Wrede

DE
2007
Kurzfilm
6’

Erinnerungen der Künstlerin an ihre Kindheit in der DDR. So erstaunlich es scheinen mag, aber der Titel Kind als Pinsel […]

Lange Weile

Tina Bara

DE
2016
Experimentalfilm
62’
OF

»Mich interessiert die Form erst, wenn alles andere da ist. Das Widersprüchliche. Spannung. Anspannung. Die Schönheit im Brüchigen. Das Trotzige. […]

my castle your castle

Kerstin Honeit

DE
2017
Dokumentarfilm, experimenteller Dokumentarfilm, Kurzfilm
15’

»I saw my castles fall today And crumble into dust beneath my feet.« –Ray Price, I Saw My Castles Fall […]