Panorama

Panorama

»WAS MICH IMMER BESCHÄFTIGT HAT, WAR DAS NICHT-ERZÄHLERISCHE KINO, WO MAN SPANNUNG SCHAFFEN KANN, OHNE KONKRET ETWAS BERICHTEN ZU MÜSSEN, WO IN EINER EINSTELLUNG EIN GANZER KRIMI STECKEN KANN.«
CHANTAL AKERMAN

Wer in den Filmen des Panorama vor allem nach Geschichten sucht, wird zwangsläufig enttäuscht. Wir sind als Zuschauer_ innen mit der tradierten Dramaturgie von neunzig Minuten vertraut. Gegenüber den Möglicheiten dieser Erzählökonomie macht sich Misstrauen breit: Lassen sich bestimmte Stoffe so überhaupt mitteilen? Jede künstlerische Intervention, die dieses Schema sprengt, ist eine Herausforderung für unsere Sehgewohnheiten. Aber wie befreiend kann das sein!

Chantal Akerman war eine Widerstandskämpferin gegen das Kino der Gefälligkeit. »Das Kino«, sagte sie, »ist ein gefährliches Handwerk.« Ihr Kurzfilmdebüt Saute ma ville (1968) präsentiert sich in aller Radikalität als Zerstörungsvision einer zornigen 18-Jährigen. In ihren Filmen entwickelte Akerman durch Variationen von Wiederholungen die Meisterschaft eines fragmentarischen Erzählens, das bis auf den Grund der Seele stößt. Sie nannte das »in Bruchstücken argumentieren«. So entstanden, unberührt von gängigen Erzählkonventionen, Augenblicke der Wahrheit im Kino. In ihrem letzten Film No Home Movie sondiert sie die Beziehung zu ihrer Mutter, einer Auschwitz-Überlebenden. Akerman sah sich als Außenseiterin, die nirgendwo hingehörte. I Don’t Belong Anywhere ist folgerichtig der Titel eines Porträts über sie, die große Filmemacherin, die sich am 5. Oktober 2015, erst 65 Jahre alt, in Paris das Leben nahm. Das Panorama ist politisch, sowohl in Bezug auf Inhalte als auch die künstlerische Form; denn eins bedingt das andere. Es sind widerständige Protagonist_innen, die diese Filme durchdringen. Die Varianten des Aufbegehrens gegen Normen, die unglücklich machen oder nicht zu erfüllen sind, sind zahlreich. Sie reichen von der Autorin Sibylle Berg biszum juvenilen Straftäter in La tête haute – das heißt wörtlich »erhobenen Hauptes«. Auch das könnte das Motto des Panorama sein. Something Better to Come, die Langzeitstudie, in der Hanna Polak vierzehn Jahre lang das Mädchen Yula beim Erwachsenwerden begleitet, zeugt davon. Dieser Film, das Setting und seine Hauptfigur brennen sich dem Betrachter ein. Unter unvorstellbar schwierigen Bedingungen auf der größten Müllhalde Europas wahrt Yula ihre Souveränität und Würde. Das tun auch die Aktivistinnen in God Is Not Working on Sunday!: Ruandas Bevölkerung steht vor der gigantischen Aufgabe, die Traumata des Völkermords zu überwinden. Ein Mittel ist die direkte Konfrontation von Tätern und Opfern. In the Future werden wir uns mit bislang ausgegrenzten Identitäten beschäftigen müssen. Wir bieten mit unseren Kurzfilmprogrammen bereits heute Hilfestellung.
Mit Mów do mnie wagt Marta Prus einen radikalen Blick auf das Verhältnis zwischen Regisseurin und Protagonist, wenn sie ihre immer komplizierter werdende Beziehung zum Mittelpunkt des Films macht. Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte interessiert auch Ruth Beckermann: Sie lässt in Die Geträumten die große Liebe zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann durch zwei Schauspieler in einem Tonstudio aufleben. Das geht unter die Haut.
In Chevalier macht sich Athina Rachel Tsangari über männliche Wettbewerbsrituale her und präsentiert uns ihr kriselndes Heimatland Griechenland auf einer Luxusjacht in der Ägäis. Es ist eine spitze Versuchsanordnung, deren Schaugenuss man sich nicht dadurch schmälern lassen sollte, dass man immerzu nur nach der Geschichte sucht.
_Betty Schiel

No Home Movie

Chantal Akerman

FR / BE
2015
Dokumentarfilm
115’

»Ich bin keine feministische Filmemacherin. Ich bin Feministin – und Filmemacherin. Ich bin aber auch jüdisch. Geboren in Brüssel. Und […]

Schicht

Alexandra Gerbaulet

DE
2015
Dokumentarfilm
28’

Schicht ist zugleich Abrechnung und Spurensuche mit und nach der (eigenen) Vergangenheit. Salzgitter: Eine Stadt, in der sich Faser für […]

DK / PL
2014
Dokumentarfilm
105’

Bulldozer zermalmen, was eine Herrschar von Lastern Tag für Tag bringt. Dazwischen Menschen, die im Geröll und Gestank einer verschwendungssüchtigen […]

Standing Tall

Emmanuelle Bercot

FR
2015
Spielfilm
119’

Malony pöbelt und prügelt sich, wo er kann, erklärt Autoritäten den Kampf, mit sechs landet er zum ersten Mal vor […]

Talk to Me

Marta Prus

PL
2015
Dokumentarfilm
42’

Marta Prus: »Ich habe Angst, Einfluss auf Dein Leben zu nehmen. Es ist schön, dass ich Dir dieses Mal geholfen […]

The Park

Randa Maroufi

FR
2015
experimenteller Dokumentarfilm
14’

Die Kamera schwebt durch einen verlassenen Vergnügungspark in Casablanca, in dem ein paar Jugendliche die Zeit totschlagen. In Tableaux Vivants […]

Wegzaubern

Betina Kuntzsch

DE
2015
Animationsfilm
6’

Wegzaubern entstand aus der Beschäftigung mit Biografien von Patientinnen, deren künstlerische Arbeiten in der Sammlung Prinzhorn (Heidelberg) vertreten sind. Die […]

Wer hat Angst vor Sibylle Berg

Wiltrud Baier & Sigrun Köhler

DE
2015
Dokumentarfilm
84’

»Bevor Sibylle Berg Sibylle Berg wurde, wusste keiner, dass sie Sybille Berg ist.« Gefeierte Roman- und Theaterautorin, Kolumnistin, bekannt für […]