Fokus

Fokus

What’s Going On? Fokus: Die Arabische Welt

»Wie die meisten Künstlerinnen und Künstler will ich den Entwicklungen mindestens eine Nasenlänge voraus sein und neue Leitbilder kreieren. Für mich als Frau heisst das, selbst für ein neues Frauenbild zu stehen.«
Jocelyne Saab

Aufruhr ist kein neues Thema arabischen Filmschaffens, vielmehr hat die öffentliche Filmproduktion in den arabischen Republiken oft mit revolutionärem Kino begonnen. Sich die eigene Geschichte anzueignen, ein selbstbestimmtes kulturelles Leben zu führen und Bildhoheit zu haben, waren zentrale Aspekte jedes anti-kolonialen Kampfes. In diesem Sinne wurde Film als Waffe gegen Fremdbestimmung eingesetzt.
Nach der Unabhängigkeit sind Pläne, sich selbst finanzierende Filmindustrien aufzubauen, fehlgeschlagen. Man konnte nicht konkurrieren mit den Studios in den USA, in Europa und – in geringerem Maße – mit Indien und Ägypten, dem einzigen arabischen Land, das bereits in den 1920er-Jahren eine eigene Industrie schaffen konnte. Ausländische Verleiher dominier(t)en weiterhin den Markt, einheimische Filmtechniker mussten zu mehrjährigen Ausbildungen ins Ausland geschickt und Finanzierungsmodelle entwickelt werden, während über die Struktur der Staatsökonomie noch nicht entschieden war. Gleichzeitig litt die Region unter mehreren Kriegen, die neuen Staaten waren sehr instabil und führten bald restriktive Gesetze ein, um die neu gewonnene Freiheit zu verteidigen – und letztendlich zu strangulieren. Lange war Marokko die einzige arabische Monarchie, die ein Filmzentrum unterhielt und einheimische Produktion förderte. Was das nicht-kommerzielle Kino angeht, sind alle arabischen Regisseur_innen nach wie vor auf Koproduktionen mit Europa angewiesen, ganz gleich, ob ihr Land staatliche Filmförderung zur Verfügung stellt oder nicht.
In diesem Programm zeigen wir Filme, die vor den aktuellen Erhebungen hergestellt wurden und anhand des Filmschaffens das Spannungsfeld und die Widersprüche der arabischen Welt in den letzten Dekaden reflektieren. Welche Formen nahm das Filmschaffen nach der Unabhängigkeit an? Welche Auswirkungen haben die Koproduktionenmit dem Westen auf das Bild, das von arabischen Gesellschaften, von arabischen Frauen gezeichnet wird? Welche Geschichten erzählen arabische Regisseurinnen und wie sehen ihre Frauenfiguren aus?
Tunesien galt zumindest bis Anfang 2011 als der arabische Staat mit den fortschrittlichsten Frauenrechten. Moufida Tlatlis international erfolgreicher feministischer Filmklassiker Das Schweigen des Palastes spiegelt den modernen Geist von Bourguiba und Ben Ali als eine Facette des unabhängigen Tunesien wider. Leila Marrakchis marokkanisch kofinanzierter Marock spielt in der reichen Oberschicht Casablancas und führt damit in eine im Kino kaum dargestellte Welt ein, die dem westlichen Bild der Region eine wichtige Facette hinzufügt. Dalila Ennadre porträtiert eine alte, arme Berberin in einer Weise, die jedes Klischee aushebelt und einen tiefen Einblick in das Erbe der Kolonialgeschichte Marokkos gibt.
In ihrem OEuvre fordert Jocelyne Saab die Machthabenden heraus und hinterfragt den Status Quo. Ihr langer Experimentalfilm What’s Going On? untersucht die Kraft der Imagination. Die irakische, in London lebende Regisseurin Maysoon Pachachi dokumentiert seit vielen Jahren Frauen aus verschiedenen Ländern des Nahen Ostens und wird ihre Arbeit in einem Werkstattgespräch vorstellen.
Ein zentraler Identifikationspunkt in der arabischen Welt ist die palästinensische Revolution. Die junge Generation palästinensischer Filmschaffender hinterfragt den Stillstand und rüttelt mit ihren sehr unterschiedlichen Formen des Insistierens auf. Auch anderswo sind das Scheitern des revolutionären Traums und der Drang nach Veränderung zu spüren. In ägyptischen Filmen der letzten Jahre war zunächst die Homogenisierung der Gesellschaft ein wichtiges Thema, bis sich der Aufruf zum Ungehorsam Platz verschaffte.

_Irit Neidhardt

TN / FR
1994
Spielfilm
127’

»Aus dem Blickwinkel eines Kindes habe ich versucht, die Welt der orientalischen Fürsten und die von ihnen ausgehende Ungerechtigkeit darzustellen, […]

I Loved So Much

Dalila Ennadre

MA / FR
2008
Dokumentarfilm
52’

»Ich wollte wie alle modernen Frauen leben und lieben«, sagt Fadma, die mittlerweile 75 Jahre alt ist. Als sie jung […]

Mamnou’a

Amal Ramsis

EG / ES
2011
Dokumentarfilm
67’

»Als ich mit dem Drehen von Forbidden begann, lebten wir noch in einer Diktatur, die fast alle politischen Rechte und […]

Marock

Laïla Marrakchi

FR
2005
Spielfilm
96’

Casablanca Ende der 1990er-Jahre: Eine Clique junger Leute aus reichem Elternhaus erlebt eine wilde Zeit mit schnellen Autos, angesagten Partys […]

Perforated Memory

Sandra Madi

JO
2008
Dokumentarfilm
62’

»Die tatsächlichen Ereignisse, die das kollektive Gedächtnis bilden, wurden verzerrt. Wie ist es möglich, dass ein politischer Plan dieses kollektive […]

Salata Baladi

Nadia Kamel

EG / CH / FR
2007
Dokumentarfilm
105’

»Wenn wir uns nicht mit den Tabus unserer Gegenwart auseinandergesetzt hätten, hätten sich die Geschichten meiner Mutter auf Genusssucht und […]

Schildkrötenwut

Pary El-Qalqili

DE
2011
Dokumentarfilm
70’

»Als ich zwölf war, ging mein Vater nach Palästina zurück. Ohne uns. Wir blieben in Berlin. Sein Traum, sich ein […]

Voices from Exile

Irit Neidhardt, Maysoon Pachachi

Werkstattgespräch mit Maysoon Pachachi Die politischen Turbulenzen und Notstände der letzten Dekaden haben zu Exil und permanentem Unterwegssein von zahllosen […]

What’s Going On?

Jocelyne Saab

LB / FR
2010
Experimentalfilm
78’

»Ich verlange vom Zuschauer nicht, dass er alles versteht, ich lade ihn einfach ein, eine Zeit lang zu träumen.« – […]

White Tape

Michal und Uri Kranot

DK / IL
2010
Animationsfilm
2’

Der Film basiert auf fünfsekündigem Material des von einer israelischen Menschenrechtsorganisation initiierten Projekts »shooting back«, bei dem Palästinenser mit Videokameras […]