Schildkrötenwut
Pary El-Qalqili
»Als ich zwölf war, ging mein Vater nach Palästina zurück. Ohne uns. Wir blieben in Berlin. Sein Traum, sich ein Haus zu bauen und für die Freiheit Palästinas zu kämpfen, scheiterte: Er wurde von den Israelis ausgewiesen. Da stand er wieder vor unserer Tür. Müde Augen. Müde Knochen. Meine Mutter schaute ihn an, sagte nichts und ließ ihn rein. Seitdem mein Vater aus Palästina zurück ist, sitzt er unten im Keller. Wie eine Schildkröte zurückgezogen in seinen Panzer. Meine Mutter wohnt oben. Sie streiten nicht mehr, sie gehen sich aus dem Weg. In unserem Haus herrscht Stille. Durchbrochen nur von den knarzenden Schritten meiner Mutter auf der Treppe. Dem Surren des Fernsehers im Keller. Und meinen Fragen an meinen Vater.«
– Pary El-Qalqili
Die Tochter nähert sich mit der Kamera dem Vater im Berliner Keller, wo er sein Dasein fristet. Gemeinsam reisen sie durch Ägypten, Palästina und Jordanien: Streit am Flughafen, Singen mit den Taxifahrern. Einsame Nächte in Hotels, Verhandlungen an verlassenen Tankstellen. Bier trinken in der Naqab-Wüste: In Schildkrötenwut erzählt Pary ElQalqili die Geschichte ihres Vaters, dessen Leben geprägt ist von Flucht, Vertreibung, dem Leben im Exil und der gescheiterten Rückkehr nach Palästina. Dessen Biografie zerrissen ist vom israelisch-palästinensischen Konflikt und dessen Tochter nach Antworten sucht, die er oft nicht geben kann.
Pary El-Qalqili steht dabei durchaus repräsentativ für eine junge Generation arabischer Filmschaffender oder Filmschaffender arabischen Ursprungs, die versuchen, die revolutionäre Vergangenheit zu verstehen, die für ihre Eltern zum Synonym für nicht gehaltene Versprechen, Versagen und Schmerz geworden ist. El-Qalqili inszeniert die Geschichte ihres Vaters mit vielen Zwischentönen, die ein Denken in den Kategorien Opfer und Täter, Gut und Böse, Schwarz und Weiß unmöglich machen.
Pary El-Qalqili
Pary El-Qalqili wurde 1982 in Berlin geboren. Sie studiert seit 2006 Regie für Dokumentarfilm an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Davor studierte sie Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Für ihren Kurzfilm ruhe im kopf erhielt sie 2009 den Starter Filmpreis der Stadt München. Schildkrötenwut ist ihr erster abendfüllender Dokumentarfilm.
Filme von Pary El-Qalqili
ruhe im kopf 2008 | angstkommen 2008 | Josip 2007