Mit rund 40 Filmen aus 20 Ländern liefert das Panorama einen fokussierten Einblick in das Schaffen von Filmemacherinnen weltweit. Der Anspruch, die Filmarbeit von Frauen des letzten Jahres repräsentativ darzustellen, lässt sich für ein Festival im Jahre 2010 zum Glück nicht mehr auch nur ansatzweise umsetzen. Wie die meisten Festivals verzeichnet auch das Internationale Frauenfilmfestival Dortmund | Köln einen stetigen Anstieg von Einreichungen, der letztendlich auch die steigende Zahl von Arbeiten widerspiegelt, bei denen Frauen weltweit Regie führten. Zu sehen ist also eine aktuelle Auswahl herausragender Produktionen ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Im Panorama interessieren wir uns besonders für individuelle Ansätze, die sich durch außergewöhnliche Perspektiven und formale Experimentierfreude auszeichnen. Dabei kommen sowohl junge Regisseurinnen zum Zuge, die ihren ersten Film auf dem Festival präsentieren, als auch alte Bekannte, deren Laufbahn wir seit Jahren verfolgen, wie Andrea Arnold (Regie-Preisträgerin 2007 in Dortmund) mit ihrem neusten Film Fish Tank. Auch in dieser Coming-of-Age-Geschichte interessiert sie sich für die englische Unterschicht und findet einen zutiefst humanistischen Zugang zu ihren vom Leben gebeutelten HeldInnen. Das Panorama hat ein Herz für die schrägen, sympathischen Figuren, die sich wie in dem japanischen Spielfilm The Bare Essence of Life sogar mit Insektenvertilgungsmittel einsprühen, wenn sie dadurch ihrem Lebenstraum und der Liebe ihres Lebens näher zu kommen glauben.
Die Notwendigkeit, diese blanke Essenz des Lebens einzufangen und abzubilden, zieht sich wie ein roter Faden durch die Auswahl. Seien es die großen politischen Themen wie Migration in Les arrivants, der mit großer Sorgfalt und Liebe die alltäglichen Geschichten und Not der Migranten und Beamten einfängt und zu Recht mit der Goldenen Taube (Internationales Leipziger Festival für Dokumentarfilm) gewürdigt wurde. Oder die radikal persönlichen Geschichten, wie Claire Pijmans mutiger Film über ihre Mutter, die sie mit ihrer Familie so gern würdevoll bis ans Ende ihres Lebens begleiten möchte und sich dann an den eigenen Ansprüchen mit rührender Offenheit abarbeitet.
Das Panorama verpflichtet sich traditionell der dokumentarischen Form, nicht zuletzt deswegen, weil Regisseurinnen in diesem Bereich nach wie vor stärker vertreten sind als im abendfüllenden Spielfilm. Dabei ist es ein Privileg, als ZuschauerIn Einblick in Welten zu bekommen, die uns sonst verschlossen bleiben: Das Schicksal der Menschen in der abgeschlossenen Diktatur Nordkoreas in Kimjongilia oder der Alltag einer jungen, berufstätigen Mutter in Damaskus, die versucht, ihre eigenen Wünsche und die ihrer Familie in Einklang zu bringen. Dolls – A Woman from Damascus spielt auch mit interessanten Variationen die Karte des weiblichen Schönheitsideals aus: Fulla – die arabische Variante der Barbie-Puppe, deren Rollenmodell es nachzueifern gilt. Hinter Fullas Lächeln verbirgt sich ein Marketing Manager, der für maximalen Profit eifrig an der modernen, arabischen Frau feilt. Westliche Schönheitsideale beschäftigen auch Adoma Owusu, die in My White Baby subversiv ghanaische Friseurinnen und weiße Puppen in Szene setzt. Es gibt ihn also nach wie vor: den dezidiert feministischen Ansatz, aber er ist nur eine Spielart im Filmschaffen von Frauen. Längst nicht alle Regisseurinnen beschäftigen sich mit weiblichen Hauptfiguren. Henri-Georges Clouzot’s Inferno ist die Dokumentation eines filmischen Versuchs, der mehr wagte als viele andere und radikal scheiterte. Vielleicht eine Parabel auf das Filmemachen an sich und die blanke Essenz des Lebens – menschlich, würdevoll, engagiert und sehenswert.
_Betty Schiel