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Wir zeigen den Dokumentarfilm »Far from You I Grew« beim Dortmunder Festival Djelem Djelem

Far from You I Grew ist ein Langzeitbeobachtungsprojekt der französischen Regisseurin Marie Dumora, die die Familie Muller schon seit über 15 Jahren mit der Kamera begleitet. Im Mittelpunkt steht Nicolas Muller, der als kleiner Junge von seiner Teenager-Mutter getrennt wurde und in ein nahegelegenes Kinderheim im Elsass kam, von wo er nun als Jugendlicher den Weg zurück zu seiner Familie finden muss.

Der Film besticht durch die behutsame Darstellung von Nicolas, hat aber vor allem eine große metaphorische Kraft; er steht für viele Aspekte moderner Lebenskultur, wie z. B. den Nomadismus, der durch die digitalen Medien neue Bedeutung erfahren hat. Während heutzutage der sogenannte ‚digitale Nomadismus‘ einen ‚hippen‘ Lebensstil von Influencern und jungen Weltenbummlern bezeichnet, ist Nicolas‘ Reise von einer anderen Art. Nicolas‘ Heimkehr zu seiner Mutter und seinen Geschwistern wird hier mit der klassischen griechischen Erzählung der Odyssee von Homer verglichen. Aber kann Nicolas sich wieder zuhause einfinden oder ist er durch die Jahre im Kinderheim zu sehr von der Kultur und Lebensweise seiner Eltern entfremdet worden? Nicolas‘ Reise ist nicht die einer unabhängigen Jet-Set-Kultur, sondern muss Klassen, – Bildungs-, Sprach- und Kulturgrenzen überwinden.

Nicolas‘ Geschichte verläuft parallel zu der von Seif Ghommid, einem gleichaltrigen tunesischen geflüchteten Jungen, der im Kinderheim Nicolas‘ bester Freund werden wird. Hier wird die jüngste Migrationskrise subtil in die Geschichte unseres ‚Helden‘ Nicolas verwoben und erweitert dessen Schicksal um eine globale Dimension. In der Freundschaft der beiden finden zwei geopolitisch grundverschiedene Schicksale der Entwurzelung zueinander und vereinen sich in den Geschichten und Sorgen der beiden Kinder. Dumoras Verständnis von Erfahrungen von Migration, Entwurzelung und Verortung ist damit ein solidarisches, und nicht ein exkludierendes.

Aber der eigentlich wichtigste Aspekt von Nicolas‘ Nomadentum liegt in seiner Familie: sein Urgroßvater war jenischer Abstammung und seiner Mutter ist bis heute die Kultur des sogenannten ‚fahrenden Volkes‘ sehr nah. Dass Nicolas‘ Mutter das Sesshafte widerstrebt, wird klar in ihrer Bewunderung des Lastwagens ihres Mannes. Und dennoch muss sie sich der sesshaften Lebensweise beugen, auch wenn dies zu schwierigen Umständen führt. Die soziale und wirtschaftliche Marginalisierung von Nicolas‘ Familie wird weder verurteilt noch bewertet, sondern – und hier liegt der Kern des Films – kulturgeschichtlich hergeleitet und aufgewertet, so dass die Zuschauer*innen nicht nur eine Reise von Ort zu Ort vornehmen, sondern auch eine Reise durch die Zeit, durch Werte, Moral, mögliche Vorurteile und ihre Überwindung. Ob und wie sich die jüngste Generation zwischen der Tradition der fahrenden Händler und bürgerlicher Bildung, sowie globalen Migrationsschüben verortet, davon erzählt dieser einfühlsame Film.

29. August 2021 • 20:00 Uhr • Kino im U
Far from You I Grew
FR 2020 • Regie: Marie Dumora • 102′ • OmU
Kino im U, Luise-Reygers-Terasse, 44137 Dortmund
Eintritt Frei

Djelem Djelem – 8. Dortmunder Roma Festival