Vaterlandsverräter
Annekatrin Hendel
»Ich erkenne die scheiß westdeutschen Filmfragen sofort.«
Paul Gratzik
Ein wütender alter Mann im Ruderboot: Der Dichter und Dramatiker Paul Gratzik (1935-2018), beschimpft die Regisseurin, als sie ihn auf seine IM-Vergangenheit anspricht. Nachdem er sich von der Figur des »Denunzianten« deutlich distanziert hat, befindet er, man habe den ganzen Kapitalisten gar nicht genug »ans Bein jepinkelt« und so gesehen sei es wohl ein Fehler gewesen »bei der Stasi in Sack jehauen« zu haben. Zwischen diesen Polen wird der Film hin- und hergeworfen, eine wuchtige Erinnerungsmaschine. Hier begeben sich zwei in den Steinbruch des Verdrängten, in die Knochenmühle des Sich-Verweigerns, Streitens und Trauerns. Zu Wort kommen Gratzik selbst, Freund*innen und Weggefährten, sein Führungsoffizier (der geradezu unverschämt dem Prototyp entspricht), seine Ex-Frauen und Kinder. Eine Biografie voller Widersprüche wird erzählt in gemalten Bildern, die die Erinnerungen weniger illustrieren als atmosphärisch verdichten und in den Filmbildern von Johann Feindt die Wut, Zerrissenheit und Einsamkeit fast schmerzhaft eindringlich werden lassen. Sie zeigen einen, der ein Flüchtlingskind war, Arbeiter, gefeuerter Literaturstudent, hoch gelobtes Dichtertalent, IM und schließlich Dissident. Die Druckgenehmigung für seinen subversiven Roman Transportpaule bekommt er von der Stasi als Belohnung für treue Dienste und empfindet eben jene zunehmend als »Vaterlandsverrat«, quittiert den Dienst, outet sich bei seinen Freunden und wird somit im Osten zur Unperson und zum grantelnden, aber nicht verbitterten, Uckermark-Eremiten.
Grit Lemke
Preise für Vaterlandsverräter
Grimme Award 2013 | Peace Film Award – Unabhängiges Film Fest Osnabrück 2011
Annekatrin Hendel
Annekatrin Hendel ist in Berlin geboren und arbeitet als Produzentin, Drehbuchautorin und Regisseurin. Im Jahr 2004 gründet sie die IT WORKS! Medien GmbH, deren Geschäftsführerin sie ist. Bereits die erste Produktion Zur Zeit verstorben wird mehrfach ausgezeichnet. Seitdem entstehen anspruchsvolle Spiel-, Kurz- und Dokumentarfilme wie Made In GDR (Olaf Kaiser, 2006) und AlleAlle (Pepe Planitzer, 2007). Ihre Zugehörigkeit zur »letzten Generation […], die in der DDR erwachsen wurde«, hat sie auch künstlerisch geprägt. Sie sieht darin »ein vom Aussterben bedrohtes künstlerisches Potential«.
Filme von Annekatrin Hendel
Schönheit & Vergänglichkeit 2019 | Familie Brasch 2018 | Fünf Sterne 2017 | Fassbinder 2015 | Anderson 2014 | FLAKE – Mein Leben 2011 | Chiquita for Ever 1999