»Meine Perspektive auf die Geschehnisse in der Türkei ist die einer Deutschländerin (DeutschTürkin), und das ist auch die Perspektive, die die Grundlage dieses Gespräches sein wird. Wir sind alle hier aufgewachsen, haben deutsche Schulen besucht, sind hier sozialisiert. Unser Selbstverständnis, bestimmte Rechte zu haben – seien es Meinungsfreiheit, Mitsprache, Bürgerrechte – hat unser Denken und Handeln geprägt. Darin unterscheiden wir uns von der gleichaltrigen Generation in der Türkei, die solch ein Selbstverständnis nicht hat. Wie schauen wir, Deutschländer, auf eine Heimat wie die Türkei, die Spuren in unserem Leben, Erziehung, Werdegang, Familiengeschichten hinterlassen hat? Diese Spuren sind geprägt von der Idee, den Träumen unserer Eltern von einer Heimat, die nicht mehr unsere ist. Seit den Gezi-Park-Ereignissen verlangt eine neue Generation in der Türkei nach Rechten, die für uns normal sind. Wir DeutschTürkinnen beobachten diese Bewegung in der Türkei mit einer Art Sehnsucht nach der Heimat, die von Verbundenheit und Erinnerungen geprägt ist. Die Personen, die mit mir diskutieren werden, sind Frauen, die in ihrer Arbeit als Journalistin, Autorin, Filmemacherin und Politikerin ihren persönlichen Blick auf die Türkei zur Diskussion stellen werden.«
– Aysun Bademsoy
»Obwohl die Türkei nie ein vorbildliches Land für Demokratie und Menschenrechte war, beobachte ich die Entwicklungen dort seit elf Jahren mit viel Besorgnis. Eine dermaßen große Einmischung des Staates ins private Leben, eine zunehmende diktatorische Regierung, Zensur und Korruption lud zu den Gezi-Protesten unvermeidlich ein. Die Bewegung kam vielleicht zu spät, aber für mich hat das türkische Volk dadurch trotzdem einen großen Gewinn: endlich Toleranz für anders Denkende, Glaubende und Andersstämmige!«
– Can Erdoğan-Sus
»Sommer 2013 in Istanbul: Ich traf Istanbuler, die beeindruckt waren über das Fieber, das eine Stadt entwickeln kann, wenn die Leute mal wirklich die Schnauze voll haben. Wenn sich der Zorn eines Ostanatoliers mit dem heißen Temperament eines Schwarzmeertürken mischt, mit der Energie von Studenten und dem Selbstbewusstsein einer alten Armenierin. Wenn diese Menschen zusammen in der Lage sind, ein Land innerhalb weniger Tage zu erschüttern, sind sie alle stolz, Istanbuler zu sein. Aber Glück, das wissen auch sie, ist etwas anderes.«
– Mely Kiyak
»Mein Verständnis von Heimat orientiert sich an der Blochschen Philosophie. Er schreibt im Prinzip Hoffnung: »Hat er (der Mensch) sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« Dieses Verständnis von Heimat ist die Verortung des Prinzips Hoffnung und nicht orts- oder zeitgebunden. Ich teile diese Sicht: wir werden nicht in die Heimat geboren, wir erschaffen uns die Heimat durch unsere Begegnung mit der Welt. Und wenn wir im Blochschen Sinne erfolgreich sind, wird die Welt uns zur Heimat. So gesehen, sind die Gezi Unruhen zur Heimat der demokratischen Bewegung in der Türkei geworden und weiter gefasst zu einer Heimat für alle Demokraten.«
– Dr. Lale Akgün
Lale Akgün
Dr. Lale Akgün, 1953 in Istanbul geboren, kam mit neun Jahren nach Deutschland. Seit über 30 Jahren lebt sie in Köln. Dort studierte sie Medizin und Psychologie, arbeitete zunächst in der Jugendhilfe und promovierte von 1984 bis 1987 im Bereich Ethnopsychologie. Dr. Lale Akgün ist außerdem approbierte Psychotherapeutin, war Lehrbeauftragte für Interkulturelle Bildung an der Universität Köln und baute 1997 und als Leiterin das Landeszentrum für Zuwanderung (LzZ) auf. Es beriet die Landesregierung NRW zu Fragen der Migration / Integration und Zuwanderung.
Seit 1980 ist sie deutsche Staatsangehörige. 1982 trat sie in die SPD ein, von 2002 bis 2009 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages. Sie war stellvertretende europapolitische und stellv. migrationspolitische Sprecherin sowie Islambeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion. Nach ihrer Mandatszeit wechselte sie in die Staatskanzlei NRW und ist dort seit März 2013 Leiterin der Stabstelle »Fairer Handel und nachhaltige Beschaffung«. Lale Akgün ist Trägerin des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland und Trägerin des Giesberts-Lewin-Preises. Sie hat zahlreiche Artikel und Bücher zu dem Themenkreis Einwanderung, Integration und Interkulturalität veröffentlicht. 2008 erschien ihr Bestseller Tante Semra im Leberkäseland. Es folgten Der getürkte Reichstag (2010) und Der Aufstand der Kopftuchmädchen (2011), das der Frage nach einem aufgeklärten Islam nachgeht. 2011 erschien Kebab Weihnacht, das für die Versöhnung der
Religionen eintritt.
Aysun Bademsoy
Aysun Bademsoy wurde 1960 in der türkischen Stadt Mersin geboren. Seit 1969 lebt sie in Berlin. An der Freien Universität Berlin studierte sie Theaterwissenschaft und Publizistik. Schon während ihres Studiums trat sie als Schauspielerin in TV-Filmen und -serien auf und arbeitete für die Produktionsfirma von Harun Farocki als Produktionsleiterin, Cutterin und Regieassistentin. Seit 1989 ist sie selbstständige Filmemacherin. Ihre erste Regiearbeit war die Dokumentation Fremde Deutsche Nachbarschaft. Auch in ihrem weiteren Werk setzt Aysun Bademsoy sich seitdem immer wieder mit Themen des Zusammenlebens von Türken und Deutschen auseinander.
Filme von Aysun Bademsoy (Auswahl)
Ehre 2011 | Ich gehe jetzt rein 2008 | Die Hochzeitsfabrik 2005 | Deutsche Polizisten: Viele Kulturen – eine Truppe 2004 | Nach dem Spiel 1997 | Mädchen am Ball 1995 | Fremde Kinder 1994 | Fremde Deutsche Nachbarschaft 1989
Can Erdoğan-Sus
Can Erdoğan-Sus wurde 1979 in der Türkei geboren. Dort wuchs sie auf und absolvierte ein Studium an der Musikhochschule Eskişehir im Fach klassisches Klavier. Im Jahr 2000 zog sie nach Deutschland, wo sie an der Hochschule für Musik Karlsruhe studierte. Anschließend studierte sie Sounddesign und Filmkomposition an der Filmakademie Baden-Württemberg. Sie komponierte Musik für Kinofilme wie Kuzu, Habib Rhapsody, Der Turm, Die Unsichtbare. 2013 beteiligte sie sich als Komponistin und musikalische Direktorin an einem in Istanbul entstandenen Musiktheater namens »Taksim Square« über die Gezi-Proteste. Die Premiere fand an der Neuköllner Oper Berlin statt. Seit 2006 lebt und arbeitet sie in Berlin als Filmkomponistin und Klavierpädagogin.
Mely Kiyak
Mely Kiyak is the author of numerous books, anthologies and she writes for various supraregional media. Before becoming a commentator at Maxim Gorki Theater, she worked for many years as a politics columnist for Germay dailies Frankfurter Rundschau and Berliner Zeitung. Mely Kiyak has been the initiator of many different initiatives to generate dialogue between those active in the cultural sector in Europe. In May, together with the authors Antje Ràvic Strubel, Nicol Ljubic and Tilman Spengler, she will be inviting visitors to the 2014 European writers’ conference »Europa. Traum und Wirklichkeit« (Europe. Dream and Reality) in collaboration with Frank-Walter Steinmeier in Berlin. In the Kurdish-speaking Diyarbakır she is also opening the temporary gallery Kültür Dükkanı from summer 2014 to the end of 2015 in collaboration with the artists who live there and who exhibit internationally − Şener Özmen, Cengiz Tekin, Berat Işık and Lal Laleş. There they will be asking the following question on site for one year: 100 years of genocide, expulsion and wars. What roles do artists play in these conflicts and »How do we live?«