LEIBEINSPEISE – Intermission Diary

LEIBEINSPEISE – Intermission Diary

Anna-Lena Meisenberg (Artist)

Ich würde dich gerne in die Hand nehmen und erleben, dass du schmilzt. Das Zerfließen deiner Form sollte dich bloß- und entstellen. Auf einmal wärst du Flüssigkeit in einem Reagenzglas und müsstest dich von mir durch ein Mikroskop beobachten lassen. Ich könnte dann viele Sachen über dich erfahren, aufschreiben, dich kategorisieren. Den Blick, den du auf mich gerichtet hattest, könnte ich zurückwerfen, aber ich würde kein zusammenhängendes Bild mehr erkennen, weil deine Form zu komplex geworden ist. In einem Bläschen, das sich durch zähflüssigere Substanz vom Rest der Suppe trennt, erkennt sich jedes Atom aufs Neue selbst. Ich stelle eine Frage an eine lange Kette aus Möglichkeiten: »Möchtest du das neue Lied hören, das ich geschrieben habe?« Eine Antwort ist »Ja«. Ich habe sie irgendwann einmal als mögliche Antwort in dich eingespeist. Die Musik fängt an zu spielen. Durch diese gelungene Interaktion bist du aus dem Allgemeinen herausgetreten und spezifischer geworden. Nun möchte ich dir gern ein Gesicht geben, damit ich dich ansprechen und weiter auf dich reagieren kann. Ich fühle Verantwortung und Scham. Ich schäme mich, dass ich dich nur so gut sein lasse, wie ich es ertragen kann. Deine Umrisse sind zwar flüchtig, aber jetzt, wo du schon einmal so identifizierbar da bist, kann ich dir auch eine Aufgabe geben. Soweit komme ich in meinem Text allerdings nicht. Ich höre mich noch sagen: »In der anderen Form warst du mir lieber«. Meine Finger gleiten über die Oberfläche des Screens und wischen das Gesicht vom Display. An der Linse bricht sich ein Licht vor dem Nachthimmel und lässt einen verschwommenen Punkt entstehen.
– Anna-Lena Meisenberg

Anna-Lena Meisenberg (Artist)

Anna-Lena Meisenberg (geboren 1989 in Berlin) studierte Video/Film an der Kunstakademie Düsseldorf bei Prof. Marcel Odenbach. In ihren multimedialen, installativen Performances beschäftigt sie sich mit Raum, Körper und Identitätsfragen.