Ihr Kampf ist unser Kampf
Aurora Rodonò
Einführung zum Film Pierburg: Ihr Kampf ist unser Kampf
Als die Bundesregierung im Dezember 1955 das erste Abkommen der Nachkriegszeit zur Anwerbung »ausländischer Arbeitnehmer« mit Italien unterzeichnet, rechnet sie nicht damit, dass bis zum so genannten Anwerbestopp im Jahre 1973 rund 5 Millionen Menschen aus Italien, Griechenland, Spanien, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien, Jugoslawien oder Südkorea als so genannte »Gastarbeiter*innen« in die Bundesrepublik kommen würden. »Die industrielle Reservearmee« – wie ein Dokumentarfilm zum Thema von Helma Sanders-Brahms aus dem Jahre 1971 heißt – sollte ihre Arbeitskraft verkaufen und die nach dem Mauerbau 1961 entstandene Lücke auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt nur kurzfristig schließen: nach dem Rotationsprinzip und in den unteren Lohngruppen. Aber die Arbeitsmigrant*innen lassen sich nicht auf die für sie bestimmte subalterne Position verweisen, und schon in den 1950er und 1960er Jahren kehren knapp 90% der Pioniermigrant*innen aufgrund katastrophaler Arbeits- und Wohnbedingungen in ihre Herkunftsländer zurück oder gehen in die Schweiz, die Niederlande und nach Frankreich, wo die Löhne höher sind – insbesondere für Frauen. Die anderen bleiben, und ab Anfang der 1970er kämpfen Migrant*innen im Frankfurter Stadtteil Westend gegen Investoren und miserable Wohnungen, demonstrieren für Kindergartenplätze sowie gegen die Diktaturen in Spanien und Portugal und legen aufgrund der ausbeuterischen und diskriminierenden Arbeitsbedingungen in den Fabriken die Arbeit nieder, so etwa bei BMW (1972), Ford oder Pierburg (1973), dem damals größten Vergaserhersteller für Kraftfahrzeuge und Flugzeuge in Neuss/NRW. Segregation und Rassismen werden sichtbar, und alleine im Jahre 1973 zählt das Redaktionskollektiv »express« 334 spontane Streiks. Eine Protestbewegung, von der sich die Zeitgenossenschaft einiges abgucken kann.
– Aurora Rodonò
Aurora Rodonò
Aurora Rodonò ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunst und Kunsttheorie der Universität zu Köln und freie Kulturschaffende/ Filmdramaturgin. Außerdem ist sie Programm-Macherin im Kölner »Filmclub 813«. 2012 bis 2014 Projektreferentin bei der Akademie der Künste der Welt (Köln); 2003 bis 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Forschungs- und Ausstellungsprojekt »Projekt Migration« (Köln 2005). Im Mai 2017 war sie an der Durchführung des Tribunals »NSU-Komplex auflösen« (Schauspiel Köln) beteiligt. Diverse Publikationen zur italienischen Migrationsgeschichte und zum deutschen und italienischen Migrationskino.